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Nichts haben, aber alles geben müssen

335.000 Wohnungslose gibt es in Deutschland, die Zahlen steigen immer weiter. Die Regensburgerin Marianne ist eine von ihnen. An einem Freitagmorgen erzählt sie, wie es dazu gekommen ist und was die Agentur für Arbeit damit zu tun hat.

Ein Beitrag von Maria Seigner

Marianne ist bereits seit einigen Stunden auf den Beinen. Ihr Gesicht ist blass, dunkle Schatten liegen unter ihren Augen, ihre leichten Falten scheinen über Nacht tiefer geworden zu sein. „Es war keine besonders gute Nacht“, murmelt sie müde und lächelt dünn. Die 43-Jährige fährt sich unruhig durch das ungekämmte braune Haar, betrachtet durch ein beschlagenes Fenster das langsame Erwachen der Stadt. Die Straßen und Gehwege füllen sich mit Menschen, die sich auf den Weg zur Arbeit machen, ihre Kinder in die Kita bringen, den Wochenend-Einkauf erledigen. Regensburg macht sich bereit für einen neuen Tag. Es ist alles wie immer. Oder?

Nicht für Marianne. Seit gestern hat sie keine Wohnung mehr, in der sie sich morgens noch einmal in ihre Decken einwickeln kann – laut eigener Aussage weil Behördenversagen sie in die Armut getrieben hat. Ihr vertrautes Heim musste sie räumen, all ihre persönlichen Habseligkeiten in Kartons packen und im dunklen Keller eines Bekannten unterbringen. Statt an ihrem eigenen Esstisch sitzt sie in den weiß gestrichenen Räumen des Regensburger Strohhalms, des Vereins zur Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen, und klammert sich an eine rot-weiß gepunktete Tasse mit dampfend heißem Kaffee, als wäre sie das Einzige, was sie besitzt. Im Grunde genommen ist sie das auch.

Marianne ist jetzt offiziell wohnungslos – und damit ist sie eine von 335.000 anderen, die kein Zuhause haben. Tendenz steigend: Die Prognose der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. lautet knapp 540.000 Wohnungslose bis 2018. Das heißt konkret: Über eine halbe Million Menschen, die keine Dauerwohnung haben und somit keine Meldeadresse. Keinen Rückzugsort nach einem turbulenten Tag. Die Zahlen in Regensburg selbst? Nicht zu erörtern, da die Dunkelziffer unbekannt ist und doch wohl erschreckend hoch.

Marianne sagt, sie bekomme zu wenig Geld vom Amt

Marianne hat mittlerweile ihren Kaffee – schwarz mit etwas Zucker – ausgetrunken. Schwerfällig steht sie auf, macht sich auf den Weg in die Küche des Strohhalms, um das ehrenamtliche Personal bei der Zubereitung des Frühstücks für die anderen Hilfsbedürftigen zu unterstützen. Dann die Frage, wie lang sie denn heute Zeit hätte, sich über ihre Situation zu unterhalten: „Unbegrenzt“, sagt Marianne mit zittriger Stimme und fängt an zu weinen. „Viel lieber hätte ich gar keine Zeit, würde Berge an Wäsche in meiner Wohnung machen oder mich in der Arbeit mit anstrengenden Projekten und Kunden herumschlagen.“ Sie nimmt Brotkörbe und Bestecke und verteilt sie auf den drei großen Buchholztischen im Esszimmer, das sich allmählich mit Menschen füllt. Es wird gegrüßt, gelächelt, hier kennt jeder jeden.

Während die Stimmen im Raum immer lauter werden, wird Marianne immer leiser. Sie schenkt sich in der Küche aus einer schwarzen Thermoskanne dampfend heißen Kamillentee in ihre rot-weiß-gepunktete Tasse und geht in das Bürozimmer des Strohhalms, das vollgestopft ist mit Ordnern und Ablagen voller Dokumente, wichtiger Telefonnummern und Adressen, und schließt die Tür hinter sich. Die Stille lässt ihre Gedanken etwas zur Ruhe kommen, denn sie sind es, die Marianne momentan nicht schlafen lassen.

Schließlich hat sie laut eigener Aussage ihr Zuhause wegen Behördenversagens verloren. Im Februar erhält die gelernte Bürokauffrau von ihrem Arbeitgeber, einer Regensburger Zeitarbeiterfirma, die Kündigung, weil sie wegen ihres kaputten Wagens einen Job in Mainburg, rund 62 Kilometer entfernt von Regensburg, nicht antreten kann. Marianne meldet sich arbeitslos, ihr stehen rund 900 Euro Arbeitslosengeld I zu – diesen Satz erhält sie allerdings nie. Rund 50 bis 60 Prozent des Geldes behält die Agentur für Arbeit in Pfarrkirchen ein, obwohl das Regensburger Jobcenter ihr versichert, sie sollte eigentlich die vollständigen Leistungen erhalten. Man legt ihr nahe nachzuhaken, mehr könne man nicht für sie tun – schließlich hat Marianne keinen Anspruch auf Hartz IV, da sie genügend Arbeitslosengeld I bezieht. Theoretisch zumindest.

Luxus- statt Sozialwohnungen

Die Agentur für Arbeit erklärt, mit dem einbehaltenen Geld sollten Rechnungen in Höhe von 1.843 Euro beglichen werden, beispielsweise von der Agentur selbst doppelt ausbezahlte Fahrbeträge und zu viel erstattete Zuschüsse, die Marianne nun wieder zurückzahlen soll. „Laut meiner Berechnung müssten diese aber schon längst abbezahlt sein, weil die Agentur schon 2.500 Euro einbehalten hat“, erzählt sie, während sie sich unruhig am Kopf und an den Händen kratzt. Bescheinigungen oder Bestätigungen über Anrechnungen des Geldes erhält sie bis heute nicht. Marianne wird am Telefon von einer Mitarbeiterin der Agentur gesagt, mit ihrer Sachbearbeiterin gäbe es schon länger auch intern Probleme, diese habe aber nur noch wenige Jahre bis zur Rente und sei deswegen unkündbar – davon kaufen kann sich die wohnungslose Marianne nichts. Brisant: Erst im September 2016 wurde ein Mitarbeiter des Jobcenters suspendiert, weil er Geld abgezweigt und in seine eigenen Taschen gesteckt hat.

Marianne ist verzweifelt und vor allem verwirrt: Aus welchem Grund behält die Agentur für Arbeit das Geld ein? Sollten Ämter nicht eigentlich bemüht sein, den Bürgern zu helfen? Stattdessen führt das Durcheinander dazu, dass Marianne fünf Monate lang ihre Miete nicht mehr zahlen kann – am 29. August kündigt ihr der Vermieter fristlos.

Es ist ihr anzusehen, dass sie sich für ihre gegenwärtige Situation schämt. Dabei liegen die Gründe für Wohnungslosigkeit oft nicht einmal bei den Betroffenen selbst: explodierende Mietpreise durch akuten Wohnungsmangel – gerade in Studentenstädten wie Regensburg. Statt dringend benötigter Sozialwohnungen werden im neu entstehenden Dörnberg-Viertel Luxuswohnungen für Groß- und Doppelverdiener gebaut, Kaufpreis: ab 5.000 Euro pro Quadratmeter. Dazu ein eigenes Forum mit Hotel, Drogerie und Fitnessstudio. Mariannes Enttäuschung und Wut darüber ist kaum verwunderlich: „Ich werde in meinem eigenen Land diskriminiert!“

„Strohhalm“-Leiter Josef Troidl hat schon viel erlebt

Nachmittags wird sich Marianne auf den Weg zu ihrem verbeulten, aber mittlerweile reparierten Wagen machen. Ihm hat sie es zu verdanken, dass der Strohhalm die Arbeitssuchende ehrenamtlich zumindest mit etwas Beschäftigung versorgt: Da sie mobil ist, erledigt sie diverse Besorgungen und Einkäufe für den Verein. Heute muss sie beispielsweise noch von einer kooperierenden Konditorei in der verwinkelten Regensburger Altstadt Semmeln und Kuchen abholen. Ihren Tag füllt das aber längst nicht aus. Aber es lenkt ab. Zwischendurch sortiert sie ihre Habseligkeiten aus, vor allem alte Küchengeräte und Klamotten, um einiges davon auf dem Flohmarkt zu verkaufen, denn: „Die Sachen in den ein oder anderen Euro umwandeln, ist besser als gar nichts.“ Sie schreibt Bewerbungen, mittlerweile hat sie schon rund 50 Stück verschickt. Und dann sind da noch die unzähligen Telefonate und E-Mails mit der Agentur für Arbeit.

Die Tür des Büros öffnet sich und Josef Troidl, der Leiter des Strohhalms, kommt herein. Er lehnt sich an einen Aktenschrank aus Holz und beteiligt sich am Gespräch. Obwohl der bebrillte Stadtrat mittlerweile 77 Jahre alt und sein lichtes Haar weiß ist, strotzt er nur so vor Energie und Tatendrang, während er von den Problemen erzählt, denen Wohnungs- und Obdachlose in Regensburg täglich ausgesetzt sind – und die den meisten Anderen verborgen bleiben. Troidl sorgt sich um seinen neuesten Schützling Marianne, bleibt aber skeptisch: Ist sie wirklich vollkommen unverschuldet in ihre Situation geraten oder hat die Agentur für Arbeit doch gar keine Fehler gemacht? Zu viel hat er schon in seinen 17 Jahren als Vereinsgründer erlebt. Die ehrenamtliche Sekretärin des Strohhalms hat nun bei der Agentur für Arbeit eine Vollmacht beantragt, um Einblick in Mariannes Akten und Rechnungen zu bekommen. Um Klarheit in das Chaos zu bringen.

„Schlimmer geht es nicht mehr“

Geholfen wird Marianne bis dato zumindest von den Behörden nicht. Von Amt zu Amt, von Beamten zu Beamten wird sie weitergereicht, niemand fühlt sich für sie zuständig. Eine Aufklärung gibt es bisher auch nicht, die Mühlen der Ämter mahlen langsam. Stattdessen muss sie sich den Kopf darüber zerbrechen, wo sie die Nacht verbringen kann, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen. Eine Möglichkeit, die sie nur im äußersten Notfall in Betracht ziehen möchte: Die einzige Obdachlosenunterkunft Regensburgs weit außerhalb der Altstadt und nur schwer erreichbar für Personen, die sich kein Busticket leisten können. Zu Fuß sind es vom Strohhalm aus 42 Minuten – vorausgesetzt die Wege sind nicht glatt und es fällt kein Schnee. Trotzdem gab es 4.467 Übernachtungen im Jahr 2016, vom 01. Januar bis 31. August 2017 waren es bereits 3.943. Von einer erhöhten Anzahl an Übernachtungen im November und Dezember ist auszugehen. Marianne hat gestern Nacht im Brook Lane Hostel in der Oberen Bachgasse verbracht – fast 20 Euro musste sie zahlen, um sich mit acht anderen Personen ein Zimmer teilen zu können. 20 Euro, die sie eigentlich nicht entbehren kann. Marianne hat nichts mehr, muss aber trotzdem alles geben – denn die Hoffnung will sie nicht aufgeben: „Von dem Punkt ab kann es nur bergauf gehen, schlimmer geht es ja nicht mehr“.

Es dämmert in Regensburg, es wird Abend. Die Straßen und Gehwege füllen sich langsam mit Menschen, die sich auf den Weg von der Arbeit nach Hause machen, ihre Kinder von Freunden abholen, noch eine Flasche Merlot für das Abendessen kaufen. Marianne trinkt den letzten, mittlerweile kalten Schluck Kamillentee aus ihrer rot-weiß gepunkteten Tasse und steht auf, macht sich auf den Weg. Zunächst zu Bekannten, bei denen sie für ein paar Nächte unterkommen konnte. Danach ins Ungewisse. Nichts ist wie immer.


Diese Reportage ist im Rahmen des Mentoring-Programms des Internationalen PresseClubs München in Kooperation mit dem NJB entstanden. Hier gibt es mehr Infos zum Programm.